Article Oliver Hartwich in the Swiss newsmagazine ‘Weltwoche’ (in German)

Dr Oliver Hartwich
Swiss newsmagazine ‘Weltwoche’
17 August, 2017

Die Mutter aller Wahlkämpfe

Neuseelands neue Labour-Chefin Jacinda Ardern hat beste Chancen, Premierministerin zu werden. Noch vor kurzem interessierte sie das Amt nicht, weil sie eine Familie gründen wollte. Die Neuseeländer sind aus dem Häuschen: Darf sie nun trotzdem schwanger werden?

Wenn eine Oppositionspartei zwei Monate vor der Wahl ihren Parteichef auswechselt, dann sind Fragen angebracht. Welche Akzente setzt der oder die Neue? Welche Wahlversprechen werden einkassiert? Und welche gegeben?

Im Fall der neuseeländischen Labour-Partei wurden auch Fragen gestellt, nachdem ihr Chef Andrew Little, 52, angesichts katastrophaler Umfragewerte kürzlich das Handtuch geworfen hatte. Nur dass Littles Nachfolgerin ­Jacinda Ardern, 37, kaum zu politischen Themen befragt wurde – sondern zu ­ihrer Familienplanung.

Nach Arderns Amtsantritt kannten die sozialen Medien, Radio- und Fernsehsender fast nur ein Thema: Kann eine Frau, die Premierministerin werden will, einen Kinderwunsch haben? Und dürfen sich ihre potenziellen Wähler dafür interessieren?

Dass dies ausgerechnet in Neuseeland diskutiert wird, mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen.

Kaum ein anderes Land ist in gesellschaftlichen Fragen so progressiv aufgestellt. In Neuseeland gibt es seit 2013 die Homo-Ehe. Es herrschen strenge Antidiskriminierungsgesetze, und die geschlechtsneutrale Elternzeit kann von beiden Elternteilen beansprucht werden.

Zwischen Ehrgeiz und Illoyalität

Neuseeland ist stolz darauf, im Jahr 1893 als erstes Land weltweit das Frauenwahlrecht eingeführt zu haben. Auch eine Premierministerin gab es längst, nämlich die von 1999 bis 2008 regierende Helen Clark.

Warum also die Fragen nach Jacinda Arderns Kinderwunsch? Hat sich Neuseeland doch noch nicht an den Gedanken gewöhnt, dass Frauen in der Politik eine Rolle spielen?

Nun, ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Das liegt vor allem an Frau Ardern selbst.

Seit sie 2008 erstmals ins Repräsentantenhaus gewählt wurde, hat Ardern eine für Oppositionspolitiker erstaunliche Karriere hingelegt. Obwohl sich ihre parlamentarischen Initiativen in einem überschaubaren Rahmen hielten, gelang es ihr doch, ausserhalb des Plenums von sich reden zu machen. Im Frühstücksfernsehen ist Jacinda, wie sie gewöhnlich genannt wird, ein gerngesehener Gast. Beim Kurznachrichtendienst Twitter hat sie 75 000 Follower – nicht wenig für ein Land von knapp 4,8 Millionen Einwohnern. Ihr ­Lebensgefährte ist der bekannte Fernsehjournalist Clarke Gayford.

Während sich die Parteichefs der oppositionellen Labour-Partei am konservativen Premierminister John Key (2008–2016) und seinem Nachfolger Bill English erfolglos abarbeiteten, brachte sich Ardern medial in Stellung. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis sie selbst die Labour-Partei übernehmen würde. Einen gros­sen Schritt dahin nahm sie erst im März dieses Jahres, als sie zur stellvertretenden Parteichefin gewählt wurde. Gerade für jüngere Parteivizes besteht immer das Problem, dass sie ihre Kar­rierepläne nie allzu offen thematisieren können. Bestreiten sie eigene Ambitionen, wirken sie schnell unglaubwürdig. Wird ihr Ehrgeiz hingegen zu offensichtlich, kann ihnen dies als Illoyalität ausgelegt werden.

Wohl um diesen Spagat zwischen Ambitionen und Loyalität zu bewerkstelligen, hatte sich Ardern daher eine Antwort auf die Frage nach ihrer Zukunftsplanung zurechtgelegt. Nein, Parteichefin und Premierministerin wolle sie nicht werden, hatte sie noch Anfang des Jahres erklärt. Schliesslich wolle sie Kinder bekommen und eine Familie haben.

Dass ihr Parteichef Little dann dermassen schnell das Feld räumen würde, hätte wohl selbst Ardern nicht für ­möglich gehalten. Und dass sie kurz vor der Wahl am 23. September noch die Labour-Partei übernehmen würde, wohl auch nicht.

Es war auch keine attraktive Option, gerade jetzt Oppositionschefin zu werden. Neuseelands Labour-Partei stand unter Little in Umfragen bei knapp über 20 Prozent. Sogar der Status als grösste Oppositionspartei nach der Wahl war fraglich. So blieb dem glücklosen Little keine andere Möglichkeit, als seinen Rücktritt zu erklären und Ardern als seine Nachfolgerin zu empfehlen. Wen auch sonst, mag man fragen, denn personell ist Labour nach Jahren der freudlosen Opposition ausgezehrt.

Privatsache?

Nur war da noch diese Babyfrage. Hatte nicht Ardern selbst gesagt, dass das Amt der Premierministerin nicht in ihre eigene Lebensplanung passe?

Ja, das hatte sie natürlich. Aber nun, da ganz Neuseeland darüber zu diskutieren begann, ob ihr Kinderwunsch ein Hinderungsgrund sein dürfe, Premierministerin zu werden, nützte ­Ardern diese Diskussion. Denn plötzlich ging es nicht mehr um Labours Politikentwürfe oder die eigentlich positive ­Bilanz der amtierenden Regierung.

Nein, es ging nur noch darum, ob auch Frauen im gebärfähigen Alter Regierungschefin werden können. Selbst Arderns Rivale, Premierminister Bill English, stimmte der Frage zu. Schliesslich sei es Arderns Privatsache – auch wenn daraus fast eine Staatsaffäre geworden ist.

Nach etwas mehr als einer Woche im Amt hat Ardern somit die neuseeländische Politik umgekrempelt. Labour legte neun Prozentpunkte zu. In der Beliebtheit hat Ardern zu Premier English aufgeschlossen. Und am 23. September könnte sie nun tatsächlich Premierministerin werden.

Ob Ardern dann auch die erste Regierungschefin mit Elternzeit wird, bleibt abzuwarten. Aber im progressiven Neuseeland ist nichts unmöglich.

 

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